Das Münsteraner Modell
Stand: 28.10.2021. Dargestellt ist die Rechtslage für klinische Prüfungen nach dem Arzneimittelgesetz in der bis zum 31. Januar 2022 geltenden Fassung. Die Erwägungen gelten sinngemäß auch für sonstige klinische Studien (siehe B.). In klinischen Prüfungen von Arzneimitteln, die nach der Verordnung (EU) Nr. 536/2014 durchgeführt werden, richtet sich der Einschluss von nicht-einwilligungsfähigen Notfallpatienten nach Artikel 35 der Verordnung. In klinischen Prüfungen von Medizinprodukten, die nach der Verordnung (EU) 2017/745 durchgeführt werden, siehe Artikel 68 dieser Verordnung.
Einleitung
Nach § 40 Abs. 1 und 2 Arzneimittelgesetz (AMG) darf eine Person an einer klinischen Prüfung nur dann teilnehmen, wenn sie angemessen aufgeklärt wurde und schriftlich eingewilligt hat.
Für nicht-einwilligungsfähige, volljährige Personen fordert das AMG in § 41 Abs. 3, dass die Einwilligung stellvertretend durch einen ärztlich aufgeklärten gesetzlichen Vertreter (z. B. einen Betreuer) oder einen durch eine Patientenverfügung Bevollmächtigten erfolgt.
Den besonderen Fall einer Einwilligungsunfähigkeit aufgrund eines Notfalls regelt das AMG in § 41 Abs. 1 S. 2 und 3. Nach Anwendung der für den jeweiligen Notfall indizierten, schulmedizinischen Behandlungsverfahren dürfen diese Patienten an einer klinischen Prüfung teilnehmen, wenn die Voraussetzungen eingehalten werden, die im Folgenden beschrieben werden. Schon an dieser Stelle wird darauf hingewiesen, dass letztlich bei dauerhaft Nicht-Einwilligungsfähigen die Einwilligung eines Betreuers oder Bevollmächtigten einzuholen ist.
A. Klinische Studien, die dem Arzneimittelgesetz (AMG) unterfallen
- Kann in einer Notfallsituation die Einwilligung des Patienten für eine unaufschiebbare diagnostische oder therapeutische Maßnahme nicht bzw. nicht rechtzeitig eingeholt werden, so darf die Maßnahme – soweit sie nicht bereits durch eine Patientenverfügung gestattet oder untersagt wird – ohne Einwilligung durchgeführt werden, wenn sie dem mutmaßlichen Willen des Patienten entspricht (§ 630d Abs. 1 Satz 4 BGB). Dies bedeutet, dass jedenfalls schulmedizinisch gesicherte Behandlungsverfahren in der Notfallsituation zunächst und unmittelbar, d. h. ohne Einwilligung durch einen Dritten, durchgeführt werden dürfen.
- Wenn in Notfallsituationen die schulmedizinische Behandlung von nicht-einwilligungsfähigen Patienten gesichert ist, besteht grundsätzlich auch die Möglichkeit, solche Patienten in klinische Prüfungen von Arzneimitteln einzuschließen. Hierbei ist zu sehen, dass nicht-einwilligungsfähige Notfallpatienten als vulnerable Gruppe nicht nur besonders zu schützen sind; sie sollen andererseits auch nicht gegenüber Einwilligungsfähigen benachteiligt werden, wenn es um den Zugang zu erfolgversprechenden Behandlungsmaßnahmen unter Studienbedingungen geht.
- Klinische Prüfungen bei einer volljährigen Person, die nicht in der Lage ist, Wesen, Bedeutung und Tragweite der klinischen Prüfung zu erkennen und ihren Willen hiernach auszurichten und die an einer Krankheit leidet, zu deren Behandlung das zu prüfende Arzneimittel angewendet werden soll, sind grundsätzlich in § 41 Abs. 3 AMG geregelt. Diese Norm fordert u.a., dass die Einwilligung in eine solche klinische Prüfung stellvertretend durch einen (ärztlich aufgeklärten) gesetzlichen Vertreter (etwa einen Betreuer) oder (etwa durch Patientenverfügung) Bevollmächtigten erfolgt.
- Erwachsene, grundsätzlich einwilligungsfähige Personen, deren konkrete Einwilligungsunfähigkeit nur auf einem akuten Notfallgeschehen beruht, fallen nach dem Willen des Gesetzgebers jedoch nicht unter § 41 Abs. 3 AMG, sondern unter § 41 Abs. 1 Satz 2 und 3 AMG. Dort ist geregelt: „Kann die Einwilligung wegen einer Notfallsituation nicht eingeholt werden, so darf eine Behandlung, die ohne Aufschub erforderlich ist, um das Leben der betroffenen Person zu retten, ihre Gesundheit wiederherzustellen oder ihr Leiden zu erleichtern, umgehend erfolgen. Die Einwilligung zur weiteren Teilnahme ist einzuholen, sobald dies möglich und zumutbar ist.“ Mit „Behand-lung“ ist hier die Anwendung des zu prüfenden Arzneimittels gemeint. Die Einwilligung durch einen Dritten ist hierfür grundsätzlich nicht notwendig. Insbesondere stellt sich bei diesen Patienten jedenfalls in der Notfallsituation nicht die Frage, ob eine Betreuung eingerichtet werden oder das Betreuungsgericht eingeschaltet werden muss. Es bedarf weder der Einrichtung einer vorläufigen Betreuung noch der Eilentscheidung des Richters.
- Es ist vielmehr unmittelbar auf den mutmaßlichen Willen des Patienten abzustellen. Von einer mutmaßlichen Einwilligung des Patienten zur Einbeziehung in Notfallforschung kann ausgegangen werden, wenn die (strengen!) Voraussetzungen des § 41 Abs. 1 Satz 2 AMG erfüllt sind, keine anderslautende Patientenverfügung vorliegt und auch keine Indizien für einen anderslautenden Willen im konkreten Einzelfall gegeben sind.
- In materieller Hinsicht kommt es hierbei vor allem darauf an, ob die Behandlung durch Anwendung des zu prüfenden Arzneimittels im Sinne des § 41 Abs. 1 Satz 2 AMG „erforderlich“ ist. Es muss mithin eine erhebliche Evidenz für die Annahme bestehen, dass das zu prüfende Arzneimittel besser als die bisherige Standardbehandlung geeignet ist, um das Leben der betroffenen Person zu retten, ihre Gesundheit wiederherzustellen oder ihr Leiden zu erleichtern. Nur wenn dies der Fall ist, kann der Prüfarzt berechtigterweise davon ausgehen, dass der Einschluss von nicht-einwilligungsfähigen Notfallpatienten in klinische Studien durch den mutmaßlichen Willen dieser Patienten gedeckt ist. Dies garantiert ein hohes Schutzniveau für den Patienten. Die Evidenzlage dazu ist vom Antragsteller darzulegen.
- In Fällen, in denen bei einem Patienten die Standardtherapie angewendet wird, entspricht es im Regelfall seinem mutmaßlichen Willen, wenn er ein Arzneimittel, von dem mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ein weiterer Nutzen zu erwarten ist, zusätzlich erhält (Add-on-Studie).
Eine Teilnahme an einer randomisierten Studie entspricht im Normalfall dem mutmaßlichen Willen des Patienten, sofern der Patient nur durch Einbeziehung in die Studie die Chance bekommt, eine der Standardtherapie mit hoher Wahrscheinlichkeit überlegene Therapie zu erhalten. Bei randomisierten Studien muss eine erhebliche Evidenz zugunsten der experimentellen Therapie vorliegen, die jedoch noch nicht so weit erhärtet sein darf, dass die für randomisierte Studien erforderliche Equipoise nicht mehr besteht. Ein Indiz dafür, ob der Antragsteller von einer entsprechenden Evidenz ausgeht, kann im Studiendesign liegen, je nach dem ob in der Studie auf eine Überlegenheit der experimentellen Therapie gegenüber der Standardbehandlung geprüft wird oder ob auch aus der Sicht des Antragstellers voraussichtlich nur eine Nichtunterlegenheit gezeigt werden kann. Ob Vordaten zur experimentellen Therapie vorliegen, die mit gutem Grund eine Überlegenheit nahelegen, hat die Ethik-Kommission in jedem Fall selbst zu prüfen.
Studien, die nur mit geringer Wahrscheinlichkeit einen individuellen Nutzen für den konkreten Probanden erwarten lassen, können durch den mutmaßlichen Willen des Patienten/Probanden allenfalls dann gerechtfertigt werden, wenn die mit der klinischen Prüfung verbundenen Risiken und Belastungen minimal sind.
Lediglich fremd- oder gruppennützige Forschung kann durch ein Abstellen auf den mutmaßlichen Willen nicht gerechtfertigt werden.
- Die Verantwortung dafür, dass sein Handeln aufgrund des mutmaßlichen Willens des Patienten/Probanden gerechtfertigt ist, trägt der Prüfarzt. In verfahrensmäßiger Hinsicht stellt sich die Frage, wie dessen Entscheidung auf eine rationale Grundlage gestellt werden kann. Die größte Expertise zur Beurteilung der Nutzen-Risiko-Relation einer Studie hat die eine Studie genehmigende Ethik-Kommission. Nur sie ist faktisch in der Lage, die generellen Voraussetzungen für die Annahme eines mutmaßlichen Patienten-/Probanden-Willens festzustellen, um den Arzt zu unterstützen und zu entlasten. Sie hat im Rahmen ihres Auftrags deshalb besonderes Augenmerk auf die „Erforderlichkeit“ der Behandlung der Notfallpatienten mit dem zu prüfenden Medikament im Sinne des § 41 Abs. 1 Satz 2 AMG zu legen. Kann sich die Ethik-Kommission mit Gründen vom Vorliegen dieses Kriteriums überzeugen, so kann der Prüfarzt davon ausgehen, dass jede vernünftig denkende Person an der Studie teilnehmen würde und diese Teilnahme deshalb dem mutmaßlichen Willen des typischen nicht-einwilligungsfähigen Notfallpatienten entspricht. Alle Alternativen – die Einholung der Meinung eines beliebigen an der klinischen Prüfung nicht beteiligten Arztes („Gießener Modell“) oder gar die Eilentscheidung durch einen fachlich notwendigerweise überforderten Betreuungsrichter („Heidelberger Verfahren“) – erscheint demgegenüber wenig rational.
- Falls sich die Ethik-Kommission nicht davon überzeugen kann, dass im Hinblick auf die zu beurteilende Studie eine erhebliche Evidenz für die Annahme besteht, dass die (gegebenenfalls zusätzliche) Behandlung mit dem zu prüfenden Arzneimittel besser als der bisherige Standard geeignet ist, um das Leben der betroffenen Person zu retten, ihre Gesundheit wiederherzustellen oder ihr Leiden zu erleichtern, darf sie eine Studie mit einem Einbezug von Personen, deren konkrete Einwilligungsunfähigkeit (nur) auf einem akuten Notfallgeschehen beruht, nicht zustimmend bewerten.
- Zu beachten ist, dass beim mutmaßlichen Willen danach zu fragen ist, wie der konkrete Patient − bei all seinen Idiosynkrasien − entscheiden würde, wenn man ihn befragen könnte. Im Einzelfall können sich deshalb sehr wohl Indizien ergeben, dass ein bestimmter Patient den Einbezug in die Studie, aus welchen Gründen auch immer, nicht wünschen würde. Dann scheidet seine Behandlung mit dem zu prüfenden Arzneimittel aus. Der Arzt muss alle ihm bekannten und in der Kürze der Zeit eruierbaren Anhalts-punkte für den mutmaßlichen Willen des Patienten berücksichtigen. Angehörige, Freunde und Begleitpersonen des Patienten sind deshalb, soweit in der Notsituation greifbar, als Auskunftspersonen (ohne eigene Entscheidungsbefugnis) heranzuziehen. Sofern − und nur sofern − keine abweichenden Anhaltspunkte bezogen auf den konkreten Patienten vorliegen, kann der Arzt davon ausgehen, dass der mutmaßliche Wille des Patienten mit seinem objektiv verstandenen Interesse übereinstimmt. Ist der einschlägige Notfall bei einem dem Arzt bereits bekannten Patienten voraussehbar, muss die individuelle Einwilligung zur Teilnahme an der Studie − soweit möglich − im Vorhinein eingeholt werden; eine mutmaßliche Einwilligung ist dem gegenüber subsidiär und kann eine mögliche tatsächliche Einwilligung nicht ersetzen bzw. eine verweigerte Einwilligung nicht überspielen.
- Die Einwilligung des Patienten zur weiteren Teilnahme ist einzuholen, sobald dies möglich und zumutbar ist (§ 41 Abs. 1 Satz 3 AMG). Bleibt der Patient – gegebenenfalls wider Erwarten – für einen längeren Zeitraum oder gar dauerhaft einwilligungsunfähig, kümmert sich Arzt (der gegebenenfalls in Personalunion Prüfarzt ist) zeitnah um die Einrichtung einer Betreuung.
- Der Einschluss von nicht-einwilligungsfähigen Notfallpatienten in klinische Studien erfordert eine enge Kontrolle der Studie. Erweist sich das zu prüfende Arzneimittel als weniger effektiv oder mit größeren Risiken und/oder Nebenwirkung verbunden als angenommen, kann dies dazu führen, dass nicht länger von einem mutmaßlichen Willen der Patienten zur Studienteilnahme ausgegangen werden kann. Umgekehrt können Equipoise-Überlegungen dazu führen, dass dann, wenn sich das zu prüfende Arznei-mittel als deutlich überlegen erweist, die Rechtfertigung für eine weitere Randomisie-rung dieser hoch vulnerablen Patienten früher als geplant entfallen kann (s. auch Absatz 7).
- Einen Sonderfall bilden Studien, bei denen initial einwilligungsfähige Patienten ihre Einwilligungsfähigkeit im Verlauf der Behandlung verlieren, beispielsweise aufgrund des Eintritts einer Komplikation. Als Beispiel seien hier Untersuchungen und Studien genannt, die auf postoperative Komplikationen fokussieren, die mit dem Verlust der Einwilligungsfähigkeit verbunden sind. Ein Anwendungsfall für das hier vorgeschlagene Modell sind solche Situationen nur, soweit die Einwilligung „wegen einer Notfallsituation nicht eingeholt werden“ kann (§ 41 Absatz 1 Satz 2 AMG). Es muss nicht nur eine Notfallsituation vorliegen, sondern es muss auch gerade wegen der Notfallsituation nicht möglich sein, die Einwilligung (im Voraus) einzuholen. Ist dagegen von vornherein damit zu rechnen, dass ein bestimmter Anteil von ursprünglich einwilligungsfähigen Patienten im Verlauf wegen einer Komplikation einwilligungsunfähig wird, muss grundsätzlich eine Einwilligung im Voraus (solange der Patient noch einwilligungsfähig ist) eingeholt werden (siehe Nr. 10 letzter Satz). Soweit das nicht möglich oder nicht zumutbar ist (beispielsweise weil über eine Vielzahl von Komplikationsmöglichkeiten und damit verknüpften, ggf. unterschiedlichen Studienoptionen aufgeklärt werden müsste), kommt auch die Einwilligung in die Studienteilnahme durch einen gesetzlichen Vertreter (Betreuer) oder Bevollmächtigten in Betracht, der im Fall einer eintretenden Einwilligungsunfähigkeit konkret aufzuklären ist. In solchen Fällen kann es nach Beratung durch die Ethik-Kommission vertretbar sein, dem noch einwilligungsfähigen Patienten vorzuschlagen, einen Bevollmächtigten zu benennen und diesem die Entscheidung über eine mögliche Studienteilnahme (ggf. mit bestimm-ten Maßgaben) zu übertragen. Hierfür gelten dann die Regelungen des § 41 Absatz 3 AMG. Außerdem ist die Einwilligung der betroffenen Person selbst zur weiteren Teilnahme einzuholen, sobald dies möglich und zumutbar ist (analog § 41 Absatz 1 Satz 3 AMG).
B. Für Klinische Studien, die nicht dem Arzneimittelgesetz (AMG) unterfallen
gilt im Wesentlichen dasselbe (Punkte 5–13).